In meiner naturwissenschaftlichen Naivität frage ich immer nach, wenn ich etwas nicht genau verstehe. Bei trivialen Themen wie z.B. „Ist das Proton tatsächlich stabil?“ ist das eine recht einfache Angelegenheit. Komplizierter wird es bei den anspruchsvolleren Fragen, wie z.B.: „Was meinen Sie mit ‚agilem Mindset‘ ganz genau?“
Worthülse Agilität
Kaum eine Worthülse wird derzeit intensiver durch die Managementliteratur gejagt als „Agilität“ und „Agiles Mindset“. Bei mir entsteht dadurch der fast schon zwanghafte Drang, jede und jeden, der oder die diese Begriffe benutzt, zu fragen, was sie oder er denn damit genau meine. Die häufigste Reaktion ist ein ungläubiges Kopfschütteln. „Das ist doch klar!“, „Wenn Du sowas fragen musst, hast Du einfach noch die alte Denkweise!“ sind dabei typische Antworten.
Bei manchen wecke ich auch den Helferinstinkt und mein Gegenüber bemüht sich redlich, mir mit einfachen Worten Nachhilfe zu geben. Da gibt es dann illustrierende Vergleiche wie z.B., dass sich Agilität zum klassischen Management wie Pop-Musik zu klassischer Musik verhalte. (Nun bestehen zwischen Wolfgang Amadeus Mozart und Michael Jackson nur graduelle Unterschiede. Aber vermutlich ist damit gemeint, dass ganze Welten diese zwei Denkweisen trennten.) Vor allem aber wird stets darauf verwiesen, dass Internet-Zeitalter, Digitalisierung und wachsende Komplexität eine gänzlich neue Art des Wahrnehmens, Denkens, Handelns, ja sogar Sprechens erfordere. Und so sei ein „Framework“ eben kein Vorgehensmodell, kein Managementsystem und erst recht keine Methode.
Wenn ich dann – mit einem möglichst verwirrten und unbeholfenen Gesichtsausdruck – um weitere Konkretisierung bitte, landet die Erklärung meist dabei, Agilität entweder negativ als Gegensatz zum Taylorismus oder positiv als New Work und Abschaffung von Hierarchien durch Selbstorganisation zu definieren. Wenn ich dann zaghaft darauf hinweise, dass Peter Senge mit seiner fünften Disziplin in den 1990er Jahren das Konzept der Personal Mastery verfocht, dass Frithjof Bergmann New Work in den 1970er Jahren propagierte und dass Taylorismus seit den 1950er Jahren mit Peter Druckers MBO wohl nur noch als historische Randnotiz angesehen werden kann, bin ich völlig unten durch. Entweder bekomme ich ein freundschaftliches Schulterklopfen mit dem Hinweis, dass ich halt ganz einfach zu dieser neuen Denkweise nicht fähig bin oder den Tipp, mit dem nur 12 Wochen dauernden Working-Out-Loud-Programm diese neue Denkweise durch konkretes Tun einfach mal auszuprobieren.
Um noch einen Rest an Respekt zu behalten verkneife mir dann zu sagen, dass John Stepper ja nur die Ideen von Dale Carnegie aus den 1920er Jahren auf Twitter und LinkedIn übertragen hat und dass WOL den Growth Mindset zum Inhalt hat und nicht den agilen Mindset. Stattdessen bedanke ich mich freundlich und verspreche, mir WOL zu Gemüte zu führen. Hab’s ja erst dreimal gelesen, vielleicht habe ich was übersehen.
Agilität konkret
Bei meinem Bemühen herauszubekommen, was nun das agile Mindset ist, bleibt mir also nichts anderes übrig, als Google zu befragen. Zum Glück gibt es ja tatsächlich genügend Leute, die sich ernsthaft darum bemüht haben, den Mythos des agilen Mindsets zu lüften.
Heart of Agile (Alistair Cockburn)
Als erstes ist da natürlich Alistair Cockburn – einer der Autoren des Agilen Manifests – zu nennen mit seinem Konzept des Heart of Agile https://heartofagile.com/. Dieses beruht auf vier Prinzipien:
- Collaborate
- Deliver
- Reflect
- Improve
Das ist doch schon mal was Konkretes: Im Team (Collaborate) etwas erstellen (Deliver), dann die Aktion auswerten (Reflect) und dabei besser werden (Improve). Nicht aufregend, aber eine solide und pragmatische Kombination von klassischem Projekt- und Qualitätsmanagement.
What Exactly is the Agile Mindset? (Susan McIntosh)
Weitaus tiefschürfender ist der vielzitierte Blog-Post von Susan McIntosh: „What Exactly is the Agile Mindset?“, https://www.infoq.com/articles/what-agile-mindset/ vom 28. August 2016. Darin zählt sie sieben Werte auf:
- Respect
- Collaboration
- Improvement Cycle
- Learning Cycle
- Pride in Ownership
- Focus on Delivering Value
- Ability to Adept to Change
Mit „Collaboration“, „Focus on Delivering Value“ und dem „Improvement Cycle“ hat sie ja schon mal drei perfekte Übereinstimmungen mit Alistair Cockburn. „Reflect“ kann man ohne weiteres auf den „Learning Cycle“, den „Pride in Ownership“ und in gewisser Weise auch die „Ability to Adept to Change“ abbilden. Nicht im Heart of Agile direkt auffindbar ist der von McIntosh explizit aufgeführte „Respect“.
Scrum Values (Ken Schwaber and Jeff Sutherland)
Diesen haben dann Ken Schwaber und Jeff Sutherland in der Ausgabe 2017 des Scrum Guides aufgenommen, in dem sie erstmals (in der Version von 2013 gibt es diese noch nicht) die „Scrum Values“ aufführen: „Commitment“, „Courage“, „Focus“, „Openness“ und eben „Respect“. „Focus“ und „Commitment“ korrespondieren ausgezeichnet mit „Focus on Delivering Value“ und dem „Pride in Ownership“. „Opennes“ findet seine Parallelen in der „Abilty to Adept to Change“ sowie den „Improvement“ und „Learning Cycles“. Neu bei Scrum ist „Courage“ als weiterer Wert, der im Wesentlichen dahingehend interpretiert wird, nicht vor Herausforderungen zurückzuschrecken.
Five Elements of Working Out Loud by John Stepper
Mit dem Revival von Dale Carnegies „Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden“ ins Zeitalter der Sozialen Netzwerke gelang John Stepper ein echter Coup. Auch hier gibt es – das ist ein absolutes Muss im Buzzfeed-Zeitalter – eine präzise Zahl von zentralen Elementen:
- Visible Work
- Growth Mindset
- Generosity
- Relationships
- Purposeful Discovery
Neu im Konzert der Werte und Elemente ist dabei ganz klar das „Visible Work“. Früher hieß es halt „Projektmarketing“ oder noch profaner „Tue Gutes und rede darüber“. Wer sich intensiver mit den Zusammenhängen von agilem Mindset und Working Out Loud befassen möchte, dem empfehle ich wärmstens den Beitrag von Ilona Libal: „Wie Working Out Loud agiles Mindset fördert – ein Praxisbericht“ https://ilonalibal.com/wie-working-out-loud-agiles-mindset-foerdert-ein-praxisbericht .
Lean Kanban
Wenn von „agile“ die Rede ist, darf natürlich Kanban nicht fehlen. Das ist zwar „lean“, aber so eng darf man das, wenn man „Opennes“ zu seinen Werten zählt, nicht nehmen. David Anderson, der das klassische TPS-Kanban in der IT populär machte, bekam gerade noch die Kurve, um unterhalb der Social-Media-verträglichen Zahl 10 zu bleiben. Er benannte neun Kernwerte für den Einsatz von Kanban (Anderson, David J. and Carmichael, Andy: Essential Kanban Condensed, 2016, https://resources.kanban.university/wp-content/uploads/2017/11/Anderson_Carmichael_Kanban_mit-U1-DLVersion.pdf):
- Respect
- Balance
- Customer Focus
- Transparency
- Understanding
- Leadership
- Agreement
- Collaboration
- Flow
Eine sehr schöne und einleuchtende Erklärung, was mit diesen Werten gemeint ist, lieferte Mike Burros 2013 in seinem Blog-Beitrag: „Introducing Kanban through its values“ https://blog.agendashift.com/2013/01/03/introducing-kanban-through-its-values/
Von diesen neun Werten erscheinen mir „Balance“ und „Leadership“ als noch nicht in den bisher betrachteten Punkten abgebildet. „Balance“ verstehe ich in erster Linie als Priorisierung meiner Arbeit, sodass ich insgesamt gesehen mit meiner Kraft die maximale Wirkung erziele. Dazu gehören eben auch die Reflexion und das Lernen. Über „Leadership“ wurden Bücher geschrieben – hier sehe ich diesen Wert in erster Linie im Sinne der Subsidiarität und des „servant leadership“ (Greenleaf, Rober K.: The Servant as Leader, 1970).
Der ultimative Psycho-Test: Wie agil sind Sie?
Mit diesen Erkenntnissen ausgestattet kommen wir nun zum Psycho-Test: „Wie agil sind Sie?“ Welchen der folgenden Aussagen stimmen Sie zu? Für jede Übereinstimmung erhalten Sie einen Punkt!
- Ich gehe respektvoll mit anderen Menschen um.
- Ich arbeite konstruktiv im Team mit.
- Ich trage innerhalb meiner Möglichkeiten zum kontinuierlichen Verbesserungsprozess der Organisation bei.
- Ich lerne aus meinen Erfahrungen, teile sie mit anderen und lerne aus den Erfahrungen anderer.
- Ich bin stolz auf das, was wir gemeinsam erreicht haben.
- Ich arbeite ergebnisorientiert und möchte, dass meine Arbeitsergebnisse sinnvoll sind und wertgeschätzt werden.
- Ich entwickle mich weiter und bin bereit, Neues auszuprobieren.
- Ich schrecke auch vor anspruchsvollen Herausforderungen nicht zurück.
- Ich berichte über meine Ergebnisse.
- Ich setze in meiner Arbeit Priorität auf die wirklich wichtigen Dinge
- Ich unterstütze meine Mitarbeiter:innen und rede ihnen nicht in das hinein, was sie selbst bewerkstelligen können.
Auswertung: Sie haben elf Punkte? Gratulation, Sie haben das agile Mindset!
Oder konnte jemand bei irgendeiner dieser Aussagen nicht zustimmen? Das kann ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen, gerade in der aktuellen Zeit des Fachkräftemangels! (Wenn Sie sich mit Ihrer Arbeit nicht identifizieren können und deshalb keine 11 Punkte erzielen konnten, dann ist es höchste Zeit, die Stelle zu wechseln! Aber dafür sind Sie ja sicher bereit, Neues auszuprobieren.)
Wir alle haben bereits das agile Mindset!
Wie soeben bewiesen, haben wir alle bereits das agile Mindset. Die logische Schlussfolgerung ist also:
NIEMAND braucht eine „Ausbildung“ in Agilität, NIEMAND muss „abgeholt“ oder „mitgenommen“ werden, NIEMANDEM muss etwas „bewusst“ gemacht werden!
Es geht lediglich um die wohl langweiligste Sache der Welt: Um Management: inhaltsleere Organisationslehre. Antworten auf die einfache Frage: Was ist der Plan? Wie schaffen wir es? Wie gehen wir es an? Spannend hingegen sind die Inhalte wie z.B.: Wie decken wir unseren Energiebedarf vollständig regenerativ, sozialverträglich, umweltverträglich, gerecht?
Und dafür brauchen wir fraglos viele neue Ideen für Kommunikation, Kollaboration, Logistik, Wissensmanagement, Produktentwicklung, Organisationsentwicklung, Risikomanagement, Qualitätsmanagement, Innovation und … und … und!
Da können strukturierte Kreativprozesse wie Design Thinking, Managementsysteme wie Scrum, Produktentwicklungsprozesse wie Lean Startup extrem hilfreich sein.
Aber sie sind eben keine magischen Rituale einer Heilslehre.
Agilität ist keine mystische Heilslehre!
Liebe selbsternannte agile „Evangelisten“, „Gurus“, „Hohe Priester“ und wie Ihr Euch sonst noch so – angeblich selbstironisch – nennt oder nennen lasst, hört bitte mit diesem Mystik-Quatsch auf! Argumentiert sachlich, beweist den Nutzen und schiebt die Schuld, wenn eine „agile Transition“ nicht klappt, nicht auf das Management und die Anwender:innen.
Die – aus meiner Sicht – überaus peinliche aber äußerst häufig zu hörende Erklärung für misslungene agile Transitionen ist: „Statt Being Agile wurde nur Doing Agile umgesetzt.“ Gemeint damit ist, dass nur oberflächlich neue Prozesse eingeführt, aber nicht die innere Haltung der Beteiligten entwickelt wurde. Der schwarze Peter wird auf diese Weise den Mitarbeiter:innen und Führungskräften zugeschoben: diese hätten eben nicht das agile Mindset.
Warum betrachte ich diese Begründung als „peinlich“? Ganz einfach weil es nun wirklich allgemein bekannt sein müsste, dass Reorganisationen und Organisationsentwicklungen nicht mit der Brechstange funktionieren, sondern nur mit einem gemeinsam gestalteten Transformationsprozess. Und es gehört genauso zur Allgemeinbildung, dass während eines solchen Transformationsprozesses zunächst die Leistung sinkt, da die neuen Vorgehensweisen eben noch nicht eingespielt sind und erstmal justiert werden müssen.
Learning by Doing Agile
Das „Argument“ vom fehlenden „being agile“ ist in meinen Augen nur eine fadenscheinige Entschuldigung von Beratern und Coaches, die ihre ureigenen Hausaufgaben nicht machen können oder wollen:
- Analyse der bestehenden Geschäftsprozesse
- Wertschätzung der bestehenden Stärken
- Identifizierung von Verbesserungsmöglichkeiten (mit denjenigen, die diese Prozesse tagtäglich leben!)
- gemeinsames Erarbeiten (z.B. mit Hilfe von Zukunftskonferenzen oder RTSC-Konferenzen) einer Roadmap zur organisationsweiten, stabilen Umgestaltung der Organisation.
Spoiler: Eine auf diese Weise entwickelte neue Aufbau- und Ablauforganisation wird garantiert nicht nach agilem Lehrbuch funktionieren! Vielmehr wird nach dem Prinzip des Learning by Doing (auch Best Practice genannt) eine pragmatische, der Branche, dem Umfeld und den Menschen angepasste Unternehmenskultur entstehen.
Exkurs: Agiles Projektmanagement
Eine besondere ökologische Nische nimmt das sog. „Agile Projektmanagement“ ein. Es wird gemeinhin als Gegensatz zum sog. „klassischen Projektmanagement“ verkauft. Wenn wir uns aber das wohl klassischste aller klassischen Projektmanagementsysteme anschauen, nämlich die Competence Baseline der International Project Management Association (IPMA), dann finden wir in der aktuellen Version der Individual Competence Baseline 4 eine lange Liste von – ja in der Tat – agilen Werten. Um genau zu sein sind es zehn personenbezogene Kompetenzen, die im „Eye of Competence“ aufgeführt werden: self-reflection and self-management, personal integrity and reliability, personal communication, relations and engagement, leadership, teamwork, conflict and crisis, resourcefulness, negotiation, result orientiation. Klassischer agil geht wohl kaum!
Aber auch gänzlich ohne Bezug auf internationale Standards wird wohl jeder, der auch nur einen Hauch von Ahnung von Projektmanagement hat, zur Erkenntnis kommen, dass Projektmanagement per se seit jeher „agil“ ist. „Agiles Projektmanagement“ ist also in etwa so wie „weißer Schimmel“ oder „nasses Wasser“.
Fazit: Das agile Mindset ist ein Mythos!
Wenn auch Sie mit Ihrer Organisationseinheit „agil“ werden wollen, z.B. um schneller marktgerechte Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, dürfen Sie mit Fug und Recht behaupten: „Das agile Mindset haben wir schon. Es geht vielmehr darum, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, den Produktentstehungsprozess leistungsfähiger zu gestalten und auch das Portfoliomanagement des ganzen Unternehmens flexibler zu machen. Dies sind sehr große Herausforderungen. Gehen Sie diese mit kleinen Schritten an!